International

Grenzgespräche – Interview mit der antifaschistischen Gruppe „Autonomia“ aus Budapest

21. Mai 2020 - 16:53 Uhr

Dass derzeit die Grenzen geschlossen sind, fällt nicht nur den Menschen mit Biografien in totalitären Regimen oder denjenigen auf, die sich wundern, dass plötzlich die prekär beschäftigten polnischen und rumänischen Dienstleister:innen nicht mehr zur Verfügung stehen, um ältere Menschen zu pflegen. Ein fundamentales Recht, welches auch vorher nur für einige galt, ist nun auch für andere eingeschränkt: die Bewegungsfreiheit. Weit über den schnellen Zigarettenkauf hinter der Grenze oder den Wochenendausflug nach Wrocław sind damit Waren- und Dienstleistungsverkehr eingeschränkt. Aber noch darüber hinaus ist es eine, wenn auch zur Zeit medizinisch notwendige, aber besorgniserregende Entwicklung. 

Statt uns abzuschotten, nimmt addn.me dies erst Recht zum Anlass, um mit Akteur:innen jenseits der Grenzen zu sprechen: Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf die sozialen Bewegungen anderswo aus? Welche wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen verfolgen Menschen in Polen und Tschechien gerade mit Skepsis? Und wie können wir den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen?

Ein Interview mit der Antifaschistischen Gruppe „Autonomia“ aus Budapest

Könnet ihr uns etwas über eure Gruppe erzählen und was eure  Aktivitätsfelder sind?

Autonomia ist ein neues Projekt, obwohl sich viele von uns schon seit geraumer Zeit kennen. Wir sind auf der Straße aktiv, organisieren und nehmen an Demonstrationen teil. In diesem Jahr haben wir die – bisher – größte Gegendemonstration zum jährlichen Nazi-Treffen zum Gedenken an den „Ausbruch“ der deutschen und ungarischen Nazi-Truppen aus der Budaer Burg 1945 organisiert.

Außerdem versuchen wir mit der Veröffentlichung von Artikeln, Übersetzungen usw. auch hierzulande etwas gegen Informationsdefizite tun und Hintergrundwissen über linksradikale Ideen vermitteln.

Auf welche Weise beeinflusst Corona eure politische Arbeit?

Gerade weil wir eine neue Gruppe sind und unsere persönlichen Bindungen noch nicht all zu stark sind, haben wir aktuell einige Schwierigkeiten mit der Koordination. Da die meisten von uns aus Budapest kommen und in der Regel die gleichen Orte besuchen, sind wir mittlerweile sehr auf Online-Kommunikation angewiesen. Straßenaktivismus, Demonstrationen usw. sind ebenfalls verboten oder eingeschränkt, so dass wir keine Möglichkeit haben, auf diese Weise mit der Öffentlichkeit in Kontakt zu treten.Wir glauben, dass der Ausnahmezustand und das Gesetz, welches Orbán für unbegrenzte Zeit nahezu uneingeschränkte Macht gibt, zwar in den westeuropäischen Medien viel Aufmerksamkeit erregt, die Situation im Land selbst jedoch nicht sehr verändert hat. Mit Ausnahme der Justiz stehen alle politischen Institutionen entweder seit längerem unter der vollen Kontrolle Orbáns und seines Kreises oder wurden vollständig ausgehöhlt. Die einzige noch verbliebene wirkliche Kontrolle über ihre Macht, ergibt sich aus der Rolle Ungarns zwischen den Stühlen der Weltmächte.

Wir haben gelesen, dass das ungarische Parlament das einzige ist, das keine Statistiken veröffentlicht. Wie empfinden Sie die Transparenz der politischen Prozesse im Moment?

Auch hier hat sich nicht viel geändert. Es scheint, dass die Politiker:innen in Osteuropa im Allgemeinen aus gutem Grund kein Vertrauen in Statistiken haben. Ein Beispiel: Insbesondere in Ungarn werden die Löhne eines Viertels der Arbeitnehmer:innen bei der Zählung der Durchschnittsgehälter nicht berücksichtigt, die Zahl der Menschen, welche unter der offiziellen Armutsgrenze leben, wurde seit Jahren nicht veröffentlicht, die Methodik der Statistiken zur Zählung der Zahl der Arbeitslosen ändert sich ständig.

Es gibt absolut keine Transparenz in Bezug auf Covid-19. Die Regierung hält die Zahl der Tests gering, während sie sich offenbar selbst des vollen Ausmaßes der Situation nicht bewusst ist. Dazu passt, dass das Finanzministerium weiterhin ein rosiges Bild der wirtschaftlichen Erholung nach dem Ende der Beschränkungen zeichnet.

In welcher Weise betreffen Maßnahmen gegen Corona Minderheiten wie Romn:ja in Ungarn mehr als andere Menschen?

Wie immer sind Minderheiten anfälliger. Die Arbeitslosigkeit – obwohl insgesamt im Land immer noch relativ niedrig – schnellte in Regionen mit einem hohen Anteil von Romn:ja in die Höhe, da sie die ersten waren, die entlassen wurden. Wegen des weit verbreiteten Rassismus wird ihnen der Zugang zum Gesundheitssystem stark erschwert. Roma-Kinder, die aufgrund systematischer Diskriminierung in der Schule zu kämpfen haben, sind jetzt, wo der Schulunterricht online stattfindet, in einer noch schlimmeren Situation. In einigen Dörfern ist die Situation extrem, der Hunger trifft immer mehr Menschen.

ExistierenBasisinitiativen, die in Zeiten von Corona Solidaritätsnetze schaffen? Wie reagieren die Menschen?

Es gab eine ganze Reihe von Initiativen wie das Nähen von Masken, die Unterbringung von Student:innen, die aus Wohnheimen rausgeworfen wurden, Spenden für NGOs, das Sammeln und Verteilen von Laptops an Kinder, damit sie von zu Hause aus lernen konnten. Die anfängliche Begeisterung lässt natürlich nach.

Das Hauptproblem ist, dass solche Initiativen die soziale Verantwortung, die die Regierung in dieser Situation übernehmen sollte, nicht ersetzen können. Zum Beispiel hat die Regierung trotz Forderungen nach einer Verlängerung der Arbeitslosenunterstützung von derzeit drei auf sechs Monate nicht ein einziges Mal bekräftigt, dass Arbeit und nicht Sozialleistungen die Basis des Staates bilden sollten. Orbán signalisierte, dass er zwar bereit ist, bis zu einem gewissen Grad großen Unternehmen zu helfen, Sozialleistungen für die Bevölkerung hingegen sind nicht zu erwarten.

Wie sehen Sie die Entwicklung der ungarischen Politik nach Corona?

Wir glauben sicher nicht daran, dass mit „einer Verschlimmerung der Lage, eine Revolution näher kommt“. Klar gehen die Meinungen auseinander, aber im Allgemeinen erwarten wir schwierige und unruhige Zeiten, die vor allem für die Linke auch Chancen eröffnen könnten.

Vielen Dank euch für das Interview und viel Erfolg euch für eure Kämpfe!

English Version:

Can you tell us about your group and what’s your fields of activism?

Autonomia is a new formation, though many of us have known each other for quite some time. We are active on the street, organize and participate in demonstrations. This year we have organized the – so far – biggest counter demo to the annual nazi gathering commemorating the “break-out” of the german and hungarian nazi forces from Buda castle in 1945. Besides we also aim to overcome the lack of available information, guidelinesrepresenting radical left ideas in Hungarian via publishing articles, translating materials etc.

In what way does Corona influence your political work?

Exactly because we are a new formation and our personal ties are not too strong we have some difficulties coordinating now. As most of us come from Budapest and attend the same places never before we had to rely so much on online communication. Street activism, demonstrations etc. are also banned or restricted so we have no way of engaging with the public this way.

What does the „state of emergeny“ mean in Hungary and to you? What power is left to other political institutions than Victor Orban himself?

 We believe the state of emergency and the law empowering Orban for an unlimited period getting a lot of attention in the media in western Europe haven’t changed much the situation in the country. Except for the judiciary all political institutions either have long been under the full control of Orban and his circle or were hollowed out completely. The only real control of their power remaining stems from Hungary’s semi-peripheral role in the world system.   

We read that the Hungarian parliament is the only one that doesn’t publish statistics. How do you percieve the transparency of political processes at the moment?

Again, hasn’t changed much in these J It seems ppl in eastern europe generally don’t trust in statistics, for a good reason. Particularly in Hungary wages of a quarter of the employees are not taken into account when counting average salaries, numbers of ppl living under the official poverty line haven’t been published for years, the methodology of statistics counting the number of unemployed are constantly changing.  There is absolutely no transparency related to Covid-19, the government keeps the number of tests low while it seems they themselves are not aware full scale of the situation. The ministry of Finance keeps drawing rosy pictures on the economic recovery after the restrictions end.

In what way do measure against Corona concern minorities, such as Romn_ja, in Hungary more than other people?

As always minorities are more vulnerable. Unemployment – though overall in the country still relatively low – skyrocketed in regions with a high percentage of Roma ppl, as they were the once who were first to be dismissed. Because of widespread racism they access to the health care system is severely hindered. Roma children struggling in school due to systemic discrimination are in an even worse situation now, that classes went online. In some villages the situation is extreme, hunger affecting more and more ppl.

Are there any grass-root initiatives that create solidarity networks in times of Corona? How do people react?

There were quite some initiatives like sewing masks, housing students kicked out from dormitories, donations for NGOs, collection and distribution of laptops to children so they could study from home. The initial enthusiasm is of course waning.The main problem is that these initiatives cannot replace the social responsibility the government should take in this situation. For instance, despite calls for extending unemployment benefits from the current 3 month to 6 month, the government not once reiterated that they want a country based on work, rather than social benefits. Orban signaled that he is willing to help out to a certain extent big corporations, but social benefits for the ppl to be expected. 

How do you see the development of Hungarian politics after Corona?

 For sure we do not believe in “the worst the situation the closer the revolution”. Opinions differ, but generally we expect difficult but turbulent times to come, that also may present opportunities for the left in particular. 


Veröffentlicht am 21. Mai 2020 um 16:53 Uhr von Redaktion in International

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